Die Mutter von Paul M. war, wie das damals im Kaiserreich so üblich war, Hausfrau u. Mutter zweier Kinder, eben vom Paul M. u. seiner Schwester. Siehe Bild P.1. Die Geschwister blieben das ganze Leben lang in gutem Benehmen bis zum Tode von Paul M. im Jahre 1983.
Sein Vater war 24 Jahre lang Leiter der Strickgarn-Abteilung in der Kammgarn-Spinnerei Stöhr & Co. in Leipzig-Plagwitz. Plagwitz war damals das wichtige Industrieviertel von Leipzig. Jetzt werden viele der ehemaligen Industrie-Gebäude von der „Kunst-Szene“ Leipzig genutzt.
Die Wohngegend von Paul M. in Schleußig war nach heutigen Ansprüchen nicht die beste, aber wer es von klein auf gewohnt ist, in einer Großstadt zu leben, den stören auch die gegenüberliegenden Hauswände nicht mehr.
Paul hatte vor dem I. WK 1914 eine unbeschwerte Kindheit im Kaiserreich, seine Eltern lebten in „bürgerlichem Wohlstand“, hatten sogar zeitweise ein „Dienstmädchen“ angestellt. An der Zeit im Kaiserreich war nichts auszusetzen.
Mit seinem befreundeten Schulkameraden, dem Eberhard Wendt, unternahm er als Jugendlicher in seinen Ferien gerne Wandertouren, so nach Thüringen, dem Erzgebirge, Böhmen bis auf den Keilberg u.v.m.
Leider kam 1914 bald der 1. WK, den Deutschland verloren hatte, und die gute Zeit beim Kaiser war vorbei („Wir wollen unsern alten Kaiser Wilhelm wieder haben….“. So doch ein studentisches Trink-Lied).
Jetzt brach der kleine Wohlstand weg. Die Reparationsforderungen aus dem „Versailler Vertrag“, lähmten Deutschland. Es kam in den Städten sogar zur Hungersnot, auch in Leipzig.
Das Abitur im Realgymnasium Leipzig-Lindenau bestand Paul 1921 mit „vorzüglich“.
Gleich anschließend besuchte er die „Höhere Fachschule für Wirkerei- u. Strickerei-Industrie“ in Chemnitz, wo er 1922 auch eine Reifeprüfung ablegte. Siehe Bild D.1 u. D.2. Schließlich war sein Vater ja auch von dieser Zunft.
Die Zeiten waren anhaltend schlecht: Es war jetzt die sogenannte „Zwischenkriegszeit“ zwischen dem I. WK u. dem II. WK. 1923 war die Hyper-Inflation, 1929 der Börsencrash in den USA. „Wenn die USA husten, dann bekommt Europa den Keuchhusten“ – Das galt schon damals!
Um die horrenden finanziellen Forderungen aus dem Versailler Vertrag loszuwerden (damals schon in Milliarden-Höhe von Reichsmark), erfand die Deutsche Reichsbank die Hyper-Inflation, die in der Welt in dieser Höhe einmalig geblieben ist. Das war die Hilfe der Deutschen Reichsbank, die sie ihrem Deutschland geben konnte. Mit wenigen Papier-Geldscheinen wäre Deutschland alle finanziellen Forderungen aus dem Versailler Vertrag losgeworden! Siehe Bild D.3: „Inflationsgeld“.Allerdings war der Nebeneffekt der Hyper-Inflation, dass sich alle Schuldner in Deutschland auf Kosten ihrer Geldgeber entschulden konnten. Es war also rundherum eine horrende Geldentwertung mit ihren Folgen. Die Banken hingegen haben ihre Kredite eingefroren, die konnten jetzt von ihren Schuldnern n i c h t zurückbezahlt werden. Das war der feine Unterschied.
Statt guter Jobs regierte der Mangel in Deutschland. Trotzdem war Paul M. von 1922 bis 1929 in zwei Firmen als kaufmännischer Angestellter tätig, für geringes Gehalt, versteht sich.
Also nutzte Paul geschickt die schlechte Zeit besser zum Studium an der Handelshochschule Leipzig für Wirtschaftswissenschaften bis zum Diplom 1927. Siehe Bild D.4 „Diplom-Urkunde“.
Vom Herzen her, sagen wir am liebsten, wäre Paul jedoch Lehrer geworden. Er konnte gut erklären, war geduldig im Zuhören und hatte sich ein breites Allgemeinwissen angeeignet. Deshalb legte er 1931 auch noch am Pädagogischen Institut Dresden die Volksschul-Lehrer-Prüfung ab.
Jetzt kam die schlimme Überraschung: Selbst diesen Job als Volksschul-Lehrer durfte Paul M. mit der „Machtergreifung von A.H.“ nicht mehr ausüben! Kaum war es nämlich 1933, wurde Paul M. „aus politischen Gründen“ aus dem Schuldienst entlassen. Er war von dem Nationalsozialismus offenbar nicht begeistert...Siehe Bild D.5: „Kündigung aus polit. Grund“ und D.6: „Sofort-Kündigung“. Das war für meinen Vater wirklich schlimm: Er war nun 31 Jahre alt und hatte immer noch keine verläßliche Anstellung gefunden.
Um den Lehrerberuf nicht vollständig zu verlieren, trat mein Vater der damals „staatstragenden Partei“, der NSDAP, bei. Deshalb durfte er im Kamenzer Bezirk (Dresdner Raum) dann doch wieder Lehrer sein, aber ab nun nur als Aushilfslehrer bei niedrigerer Gehaltseinstufung und „unter besonderer Beobachtung“.
Aushilfslehrer bedeutete: Wenn andere Lehrer wegen Krankheit ausfielen, bekam mein Vater mal eine Aushilfsstunde. Und das in verschiedenen Schulen in verschiedenen Dörfern in der Lausitz, zwischen denen er dann mit seinem Fahrrad hin- und herfahren mußte. Geld für ein Motorrad oder gar ein bescheidenes Auto war überhaupt nicht vorhanden.
Paar Jahre mußte er diesen schlechten Job aushalten, bis das Unerwartete passierte: Da bestellte ihn zusammen mit ein paar anderen Lehrerkollegen der Schul-Direktor ins Sekretariat. Da hatten alle schon Sorge, dass sie wohl jetzt komplett entlassen würden. Aber nein! Der Schulleiter sagte: „Meine Herren, das ist ja wohl eine Selbstverständlichkeit für Sie, jetzt dem Führer die Treue zu beweisen. Ich habe deshalb für Sie die Beitrittsanträge für die SA schon vorbereitet, Sie müssen jetzt nur noch unterschreiben. Dann kann ich Sie wieder ordentlich in den Schuldienst einstellen“.
Die betroffenen Lehrer, so auch mein Vater, waren geschockt u. unterschrieben letztlich doch – u. waren fortan wieder voll Volksschullehrer...
(Zur Erklärung: Die SA war nach meiner Einschätzung eine vormilitärische Organisation, ich vergleiche die mal mit den „Kampfgruppen“ der DDR)
In dieser Zeit schuf mein Vater für den Heimat-Kunde-Unterricht in der Lausitz so manch schönes Unterrichtsmaterial. Das erhaltene „Dorfbuch“ Bild D.8 zeigt es uns.
1938 wurde für Paul M. endlich, wirklich endlich sogar sein Lebenstraum wahr: Er wurde ver-beamtet u. bekam eine Lehrstelle als Dozent an der Kaufmännischen Hochschule in Dippoldiswalde / Sachsen (leider eben nicht in Leipzig). Siehe Bild D.7: „Bestallungs-Urkunde“. Nun gab es eigentlich – weil Beamter - keine Arbeitslosigkeit mehr! Da hieß es Umziehen zusammen mit seiner Frau Alice nach Dippoldiswalde. Nun paßte für meinen Vater sogar die Hochzeit mit Frau Alice ins Leben 1941, siehe Bild P.2: „Hochzeitsbild“.
An vielen Wochenenden mußte ab nun mein Vater als SA-Mitglied an Aufmärschen teilnehmen (z.B. Nürnberg), wenig war er an seinen Wochenenden zu Hause, wo er sich gerne erholt hätte. „Fast verlorene Jahre“ - hat er rückblickend zu dieser Zeit später zu mir gesagt.
In den ersten Kriegsjahren des 2. WK konnte mein Vater trotzdem weiterhin Hochschullehrer sein, er war „uk“ – als unabkömmlich eingestuft - u. endlich – das erste Mal in seinem Leben – gut Geld verdienen.
Doch das dauerte leider wieder nicht lange an. „Das Glück ist eine leichte Dirne…“ (Heinrich Heine) sagte er zu mir oft im Rückblick auf sein Leben. Denn bald verschlechterte sich die militärische Lage, und Paul M. wurde 1943 auch zur Wehrmacht eingezogen. Gott sei Dank – er kam unbeschadet aus dem Krieg zurück.
Siehe D.9: „Feldpost-Briefe an Mutter und Ehefrau“.
Nach Ende des II. WK 1945 kam in der SBZ (später DDR) die großangelegte Entnazifizierung unter sowjetischer Kontrolle. Meinem Vater wurde der Lehrerberuf nun schon wieder genommen.
Weil mein Vater verbeamtet, auch noch NSDAP- u. SA-Mitglied“ war, flog er sofort wieder aus dem Schuldienst raus.
Jetzt fand er in Dippoldiswalde keine bessere Arbeitsstelle als Forst- u. Bauhilfsarbeiter. Die Tätigkeits-Bescheinigung siehe Bild D.10: „Forstarbeiter-Anstellung“. Besonders im Winter war diese Arbeit wohl eine Katastrophe, er hatte davon erzählt, immer diese kalten Hände, die Schlepperei der schweren Baumstämme durch den Schnee usw. Gute wärmeisolierte Handschuhe waren unbekannt. Man hatte damals bestenfalls von Muttern woll-gestrickte Handschuhe mit den bekannten unangenehmen Strickwolle-Löchern.…
Gerade 1947 soll ein sehr kalter Winter gewesen sein, die letzte Versorgungs-Logistik für die Bevölkerung zur Lebensmittelzuteilung war nun zusammengebrochen. Jeder mußte selbst sehen, wie er überleben konnte.
Im Dresdner Raum wurden nach Kriegsende viele Offiziersfamilien aus der Sowjetunion angesiedelt, schließlich mußten die sehr vielen sowjetischen Soldaten hier verwaltet, befehligt werden. Zu großen Versammlungen, oder wie man heute gern sagt „events“ für die Offiziersfamilien, war Tanz-Musik gewünscht. Funktionierende Radiosender gab es wohl nicht, Schallplatten zum Tanze erst recht nicht. Es war ein paar Jahre komplett „Mittelalter“. Mein Vater zusammen mit seiner Ehefrau Alice konnte solche events nutzen, um dort Tanz-Musik zu machen auf Klavier und Akkordeon. Irgendwie Geld verdienen war überlebenswichtig. Zusätzlich kritisch war, dass ich als ihr Sohn gerade jetzt 1947 geboren wurde! Hierzu Bild D.11: „Sowjetische Offiziers-Familien“ in Dippoldiswalde.
Anfang der 50er Jahre wollten meine Eltern wieder nach Leipzig zurück, Dippoldiswalde war kein Arbeitgeber mehr, hier wollten sie nicht bleiben.
In Leipzig fand sich für meinen Vater keine bessere Arbeit, als bei einer Mini-Privat-Firma mit dem Namen „Zaumseil“ in Leipzig-Plagwitz als kaufmännischer Angestellter. Siehe Bild D.12: „Arbeitszeugnis der Fa. Zaumseil“. Hier mußten die Angestellten aber auch Farbe / Lacke aus Farbfässern in Blech-Dosen abzufüllen. Das klingt erstmal machbar, aber diese Tätigkeit hatte einen Haken. Denn es gab keinen Arbeitsschutz. Gerade im Winter waren die Fenster der „Firma“ wegen der Kälte verschlossen. Durch das ständige Einatmen von Lösungsmittel-Dämpfen bekam mein Vater bald schlimmes Asthma. Ich erinnere mich noch, wie das war, als er ständig mit jedem Atemzug um Luft kämpfen mußte, um nicht zu ersticken. Pumpsprays wie heutzutage gab es natürlich nicht. Lunge, Bronchien fiepten ständig. Schlimm war das!
Irgendwann aber durfte mein Vater dann doch wieder in Leipzig Lehrer sein, allerdings nur in den unteren Klassen 1...5, die „Entnazifizierung“ schwebte immer noch lange Zeit gerade über den Lehrberufen. Natürlich auch erst, nachdem mein Vater wenigstens der gemäßigten DDR-Partei, der NDP, beigetreten war. Jetzt unterrichtete er in den unteren Klassen Deutsch, Biologie, Heimatkunde u. Schulgarten.
Er war Lehrer in Leipzig-Gohlis in der Coppy-Straße, dann in Schönefeld in der „22. Oberschule Nord-Ost“ am Friedhof, die deshalb von den Schönefeldern gern „Friedhofs-Schule“ genannt wurde. Sie war in der Gorkistraße Ecke Ossietzkystraße. Der Unterricht in den Grundschulklassen war für meinen Vater allerdings auch schwierig, weil die kindlichen Schüler oftmals wenig Disziplin hielten. Gerade im Schulgarten beschmissen die sich gerne mit Unkraut u. Erdbatzen usw. Lernen und Disziplin mußte denen ja auch erst allmählich beigebracht werden, wie das eben so ist. Und das alles, obwohl mein Vater doch locker in vielen Handels-Schulfächern hätte unterrichten können. Er hätte zum Aufbau der DDR viel mehr beitragen können.
Eigentlich ein schweres Leben bis zum Renteneintritt. Dennoch gab es jetzt immer häufiger Lob, so auch für seine Lehrtätigkerit im Schulgarten (die es bis dahin gar nicht gegeben hatte). Siehe Bild D.13: „ Lob als Schulgarten-Lehrer“ und D.14.
Für ihn als Heimatkunde-Lehrer gab es kein Lehrmaterial, Lehr-Bücher zum Fach „Heimat-Kunde“ gab es nicht. Deshalb schritt mein Vater auch hier wieder selbst zur Tat: Aus div. Quellen, wie alten Postkarten, Lexika, alten Stadtplänen usw. schuf er sein eigenes Heimatkunde-Lehrmaterial. Ich als sein Sohn war an der Gestaltung der Heimat-Kunde-Lektionen auch beteiligt: Nach Vorgaben von meinem Vater habe ich Niederschriften in Wort und Bild angefertigt, mehrere A5-Heftchen voll. Für jede Seite, die ich erstellt hatte, bekam ich 20 Pfg. „Lohn“. Für „Wasserflöhe“ im Glas kaufen (Fischfutter) für mein Aquarium hatten z.B. 20 Pfg. genügt… Für Bild D15 habe ich willkürlich zwei dieser Heftchen mal aufgeschlagen.
Seine Schüler werden das gar nicht bemerkt haben: Was sie lernten, war jedoch alles von meinem Vater geschaffen!
Mein Vater als Volksschul-Lehrer, siehe Bild P.3: „Paul M. als Volksschul-Lehrer“, hier wohl in einer 4. Klasse.
Dann in Bild D.16: „Häufige DDR-Auszeichnung“ auch für meinen Vater. Diese Urkunde wird allen „DDR-Kennern“ ein Lächeln entlocken.
Als mein Vater später dann als Rentner in seinem Gartengrundstück in Leipzig-Wachau übernachtete, kaufte er sich ab und zu von etwas „West-Geld“ eine Büchse Kaba. Kleine Mengen „West-Geld“ bekam er von seinen Verwandten geschenkt, wenn die mal einen Besuch nach „Dunkel-Deutschland“ wagten, hierzu Bild P.4: „Seltener Westbesuch mit VW Käfer“. Jedenfalls konnte er ab und an mal eine Büchse Kaba im „Intershop“ kaufen.
So trank er genüßlich im Garten ab und zu seine Tasse Kaba. Dazu erzählte er mit folgende Geschichte:
„Im Krieg bekamen die Offiziere der Wehrmacht am Sonntag zum Frühstück 1 Buttersemmel u. 1 Tasse Kakao, aber nur die Offiziere! Wir Soldaten nicht. Und jetzt kann ich mir das auch leisten, die Buttersemmel u. die Tasse Kakao…“
Da schmeckte die Tasse Kaba gleich doppelt gut.
Als Rentner war mein Vater häufig in unserem Gartengrundstück in Leipzig-Wachau Bild P.5: „Kaffee-Trinken im Garten“. Für dieses Farb-Bild habe ich noch ein Stück ORWO-Diapositiv-Film gefunden und das Bild eingescannt!
Natürlich fallen im Garten auch immer notwendige Handwerksarbeiten an, aber es gab so gut wie keine Werkzeuge oder Baustoffe zu kaufen. Es gab keine elektrische Handbohrmaschine u. keine Spreizdübel. Das Setzen von Plastik-Spreizdübeln war unbekannt. Das dauerte an, bis etwa Ende der 60er Jahre es die ersten „Multimax-Schlagbohrmaschinen“ vom „VEB Elektrogerätebau Sebnitz“ in den Handel kamen. Diese kleinen Hand-Bohrmaschinen waren ab nun, besonders zusammen mit dem begehrten „Schlagbohr-Aufsatz“ auch noch jahrelang „Bück-dich-Ware“, also auch wieder nur sehr schwer zu bekommen. Mein Vater hatte das alles nicht. Er hatte nur einen Satz stumpfer Handbohrer, einen Hammer, Nägel, Dachpappenägel, eine Kombizange, eine Beißzange schon und natürlich Gartrengerät.
Das alles war auch der Grund dafür, warum die Häuser, die Grundstücke in der DDR so elend, so verwahrlost aussahen. Es war eben nicht nur Geldknappheit oder Unvermögen der Leute in „Dunkel-Deutschland“, sondern es gab so gut wie kein Werkzeug zu kaufen. Darüber bin ich (als Sohn von Paul M.) jetzt manchmal noch traurig, wenn ich mich erinnere, dass mein Vater so viel Mühe hatte, einfache handwerkliche Reparaturen durchführen zu können. Schlimm war das! Eine Schande!
Das war übrigens eine der Ängste der DDR-Genossen, wenn sie doch mal jemanden nach dem Westen zu dringendem Verwandtenbesuch rüberfahren ließen, dass der dann von einem sogenannten „Baumarkt“ erzählen konnte: „Dort gibt es so viel Werkzeug, das glaubt ihr mir sowieso nicht…“ Das erzählten dann die Rückkehrer aus dem „Westen“. Meist schwiegen dann die Zurückgekehrten, sie konnten den Werkzeug-Wohlstand im „Westen“ gar nicht in verständliche Worte fassen, und geglaubt hat ihnen das auch kaum jemand von den Zuhörenden…
Nun noch eine Begebenheit, die aber gut zu der Nachkriegszeit paßt.
Etwa alle 2 Jahre ging mein Vater in die Innenstadt von Leipzig in die Gaststätte „Kaffeebaum“ zum Klassentreffen. Dort traf er wieder seinen Jugendfreund aus Schleußig, jetzt längst verheiratet, den Eberhard Wendt, und andere natürlich auch. Mein Vater erzählte mir einmal, dass doch viele seiner ehemaligen Klassenkameraden im Krieg verschollen waren. Eine Geschichte von ihm hat mich besonders berührt. Und die war so:
Sein Klassenkamerad mit dem Namen Bettzieche, hatte zu einem der frühen Klassentreffen selbst erzählt, dass er, als er aus dem Krieg zurückkam, an der Stelle seines Wohnhauses nur noch einen Schuttberg vorfand. Alles war zerbombt. Auch seine geliebte Frau und sein kleines Töchterchen waren nie mehr auffindbar. Da wurde Klassenkamerad Bettzieche schwermütig, er weinte viel. Ab irgendwann wurde er deshalb in die Psychiatrie vom Klinik-Komplex „Leipzig-Dösen“ eingeliefert. Dösen ist südlich vom Stadtteil Leipzig-Probstheida. Und dort bekam Bettzieche gärtnerische Arbeiten zugewiesen, auch Verpflegung und Unterkunft. So konnte seine Seele langsam wieder einigermaßen genesen...Er wollte dann nie mehr aus dem Klinik-Komplex Dösen wieder weg. Er kam auch nie mehr zum Klassentreffen in den Kaffeebaum.
Wofür ich meinem Vater immer dankbar bin, erzähle ich jetzt noch schnell.
In den 1950er Jahren fuhr mein Vater mehrfach mit mir in Urlaub, meist als „FdGB-Ferienplatz“, das war billig, aber damit machbar. Oft waren die Unterkünfte sehr primitiv, gerade wenn es sich um vom FdGB angemietete Privat-Unterkünfte handelte: Kein Bad, kein fließendes Wasser, sondern eine große Porzellanschüssel mit kaltem Wasser drin war oft oft die Waschgelegenheit. Egal. Unterwegs waren wir immer mit Personenzug und Linienbussen. So hatte ich mit meinem Vater Urlaube in Boltenhagen, auf der Insel Poel (beides Ostsee), Friedrichroda (Thüringen), Dippoldiswalde, Schellerhau, Zella- Mehlis, Altenberg / Geising (Erzgebirge), Mühlleiten, Bild P.6: „Urlaub mit Sohn in Finsterbergen“ ( Thüringen).
Er hat mir bei den Urlaubsreisen die Welt gezeigt, viel erklärt, viel mit mir gesprochen, ja bei Wanderungen haben wir oft Gedichte gelernt und rezitiert: die weltbekannte Schülerszene vom Faust I, den Osterspaziergang, den Zauberlehrling u.v.m. waren im Programm. Auch erzählte mir mein Vater viel Interessantes aus dem µ-Kosmos u. der Welt der Sterne.
Zum heiklen Thema, damals nur rhetorisch gemeint: Wolle er lieber im „Westen“ sein oder in der DDR leben, sagte mein Vater mir einmal sinngemäß:
„Ich bin zufrieden mit dem, was ich hier habe. Zumindest muß hier in der DDR niemand mehr Hunger leiden und Frieden haben wir auch“. So bescheiden war mein guter Vater.
Irgendwann kam auch für meinen Vater das Ende. Er sagte zu mir immer mal: „Mors certa, hora incerta“ – dieser Spruch steht nämlich auch am Neuen Rathaus in Leipzig.
Freitag, den 20. Mai 1983, fiel mein Vater im Garten um, er konnte nicht mehr sprechen. Er war allein dort. Die spätere Diagnose war: Gehirnmassen-Blutung. Endlich, nach stundenlanger Wartezeit gegen 23:00h, kam ein Krankentransporter, ein „B 1000“-Krankenwagen. Der fuhr meinen Vater ins Sankt-Elisabeth-KHs nach Connewitz, weil ja dort die „richtigen Ärzte“ wären.... Aber die Ärzte dort haben auch nur nichts Lebensrettendes getan! Der Grund: Keiner wollte oder konnte den Kopf von meinem Vater anbohren, um das ausgetretene Blut rauszulassen...
Und so kam das Ende von meinem Vater im Sankt-Elisabeth-KHs am 25. Mai 1983.
Das Grab von meinem Vater existierte knapp 40 Jahre auf dem Connewitzer Friedhof, Meusdorfer Straße, in Leipzig. Nun aber habe ich im Jahr 2023 die Grabstätte dort aufgelöst...
Siehe Bild D.17: „Trauer-Anzeige in der LVZ“ = Leipziger Volkszeitung
Wir schauen auf einen Menschen mit großer Allgemeinbildung, vielfachem Fachwissen und edlem Charakter zurück.
So seine Lebensmaxime (nach Homer):
„Ist auch dein Kreis unscheinbar eng u. klein,
erfülle ihn mit deinem ganzen Wesen.
Bestrebe dich, ein guter Mensch zu sein!
Gelingt dir dies, so bist du auserlesen.
Auf Größe muß der Mensch zumeist verzichten.
Die Güte aber ist der Kern der Pflichten“
In Dankbarkeit!
Dein Sohn Reimar
+++++++++++
Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen... (Faust II, Die himmlischen Heerscharen)